
BEZIEHUNG ZU SICH SELBST
In jedem Moment unseres Lebens sind wir mit uns selbst konfrontiert. Durch Bedürfnisse wie Hunger und Durst, Zustände wie Erschöpfung und Schmerzen, Gefühle wie Sehnsucht und Erfüllung nehmen wir uns wahr, begegnen uns selbst und reagieren auf uns. Wir haben – bewusst oder unbewusst – eine Beziehung zu uns selbst. Diese zeigt sich in der Art und Weise, wie wir mit uns umgehen: mit unserem Körper ebenso wie mit unseren Gefühlen, Bedürfnissen, Fähigkeiten, Wünschen, Nöten und Werten. An dieser Stelle soll es um lediglich drei Aspekte dieser besonderen Beziehung gehen, die nach meinem Empfinden eine große Rolle spielen, wenn man nicht nur mit krankheitsbedingten Lebensveränderungen einen Umgang finden muss, sondern ebenso mit einem veränderten Körper(-empfinden) oder einem neuen Selbsterleben.
Die Beziehung zum eigenen Körper
Nach einer schweren Krankheit oder einem Unfall kann sich der eigene Körper zunächst fremd anfühlen, sei es durch Lähmungen oder gar Amputationen, sei es durch eine bislang unbekannte gesamthafte körperliche Schwäche. Neben dem Empfinden von Fremdheit kann Angst auftreten, wenn das Gefühl hinzukommt, sich nicht mehr auf das reibungslose – und oft als selbstverständlich angenommene – Funktionieren seines Körpers verlassen zu können. Manchmal treten Schamgefühle hinzu, weil man sich so weder selbst anschauen noch sich anderen Menschen zeigen mag. In unserer vom Selbstoptimierungsdruck geprägten Welt mag es nochmal schwieriger sein, einen Umgang mit dem auch körperlich veränderten So-Sein zu finden. „Es ist schwer, sich trösten zu lassen, und man braucht die höchste Lebenskraft dazu, sich selbst als Fragment und doch als Nicht-Verurteilter wahrzunehmen.“ (Fulbert Steffensky)
Je nachdem, wie stark die Verunsicherung durch das als fremd empfundene Körpererleben ausgeprägt ist, gibt es unterschiedliche Zugänge, um damit umzugehen. Wenn es sehr schwer fällt, sich selbst in diesem veränderten Körper anzunehmen, kann professionelle Unterstützung sinnvoll sein.
Manchmal hilft aber auch schon die bewusste Entscheidung, sich selbst anders anschauen zu wollen. Um noch einmal Fulbert Steffensky zu zitieren „Dem Blick, der uns anklagt, unter dem wir erbarmungslos uns selber deutlich werden und der in uns die unstillbare Sehnsucht weckt, andere zu sein, als wir sind, ist leichter zu glauben, als dem Blick der Güte, der uns birgt und der uns schön findet gegen unsere eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen.“
Neben einem annehmenden, gütigen Blick auf sich selbst tut es wohl, sich dem eigenen Körper mit Achtsamkeit, Fürsorge und vielleicht auch einer gewissen Zärtlichkeit zuzuwenden, um (wieder) in einen guten Kontakt mit ihm zu kommen. Massagen können dabei ebenso helfen wie Yoga, Thai Chi, Qi Gong, warme Bäder, duftende Körperöle oder -lotionen, bewusste sinnliche Erfahrungen wie die Berührung von nassem Gras, sanfter Wind auf der Haut, liebevoller Körperkontakt zu anderen Menschen oder auch ein Besuch in der Therme oder beim Friseur, eine neue Matratze oder besonders weiche Schlafsocken – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Sich seinem Körper bewusst auf liebevolle Weise zuzuwenden und ihm Gutes zu tun, unterstützt den Heilungsprozess und bildet ein wohltuendes Gegengewicht zu den oft unangenehmen oder nicht selten sogar schmerzhaften medizinischen Maßnahmen.
Zum Umgang mit sich selbst
Der Umgang mit sich selbst kann unzählige Facetten haben: verstehend, fordernd, nachlässig, ignorant, gleichgültig, streng, unnachgiebig, sorgend, liebevoll …, die bei Gesundheit nur selten bewusst sind. Wenn man krank wird, bleibt er – sowohl leider als auch zum Glück – zunächst oft unverändert, er ändert sich nicht automatisch. Erst wenn man spürt, dass zum Beispiel die Erwartungen an sich selbst nicht mehr motivieren, sondern eher überfordern oder die bisher geübte Selbstdisziplin nicht mehr nur hilft, sondern zunehmend Druck macht, kann es notwendig werden, den eigenen Umgang mit sich kritisch zu hinterfragen und eventuell zu verändern. Das geschieht nicht von heute auf morgen, denn unser Umgang mit uns selbst ist von jahrelangen Gewohnheiten, verinnerlichten Geboten und Konventionen, von eigenen und fremden Erwartungen, manchmal auch von Ängsten oder Schuldgefühlen geprägt. Es braucht die bewusste Entscheidung, anders als bisher mit sich umgehen zu wollen und Geduld und Ausdauer, um diesen veränderten Umgang zu einer neuen Gewohnheit werden zu lassen.
Bei dem Klärungsprozess können folgende Fragen hilfreich sein:
- Passt die Art und Weise, wie ich bislang mit mir umgegangen bin, noch in der aktuellen Situation? (Und wie bin ich bislang eigentlich mit mir umgegangen?)
- Gestehe ich mir eigentlich zu, verletzlich oder schwach zu sein? (Es geht nicht darum, ob ich das mag, sondern zunächst nur um die Frage, ob ich es mir zugestehe.)
- Was macht es schwer, mir das zuzugestehen? Was macht es mit mir, wenn ich mich so erlebe?
- Begegne ich mir selbst so, wie ich einem anderen Menschen begegnen würde, den ich liebe? Rede ich mit mir selbst so, wie ich mit einem anderen Menschen rede, vor dem ich Achtung empfinde?
- Was würde ich mir wünschen, wie ich mir selbst anders begegnen kann? (Hier kann es helfen, sich bewusst zu machen, wie man mit anderen Menschen umgeht, die krank sind, wie zum Beispiel das eigene Kind. Könnte ich mir davon etwas für meinen Umgang mit mir abschauen? Wenn ja: Wie kann ich das konkret verändern? Wenn nein: Warum eigentlich nicht? Was hindert mich daran?)
- Was könnte mir helfen, einen anderen Umgang mit mir einzuüben?
Diese Fragen können der Beginn eines Prozesses sein, vielleicht einen anderen Umgang mit sich selbst einzuüben. Dafür muss man sich über einiges klar werden, zum Beispiel auch über Sätze wie „Das kenne ich noch von zuhause.“ oder „Man darf nicht schwach sein.“ oder „Ich hab es aber doch immer so gemacht.“ Selbst wenn ich es immer so gemacht habe: Was hindert mich daran, es zu verändern, wenn ich es für mich in der neuen Lebenssituation als unzuträglich erkenne?
Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie, schrieb, dass der Mensch als geistiges Wesen sich immer entscheiden könne, anders als bisher mit etwas oder/und mit sich umzugehen. Dafür reicht es nicht, einmal die Entscheidung zu treffen, es anders machen zu wollen, sondern man muss es machen. „Machen ist wie wollen, nur krasser“, wie es ein Berliner Sportstudio etwas plakativ formulierte. Da ist was dran. Und es erfordert zunächst immer dann, wenn ich mich dabei ertappe, doch wieder in den alten Bahnen zu sein, die erneute Entscheidung, es anders machen zu wollen, und ein kontinuierliches bewusstes Üben und gleichzeitig Nachsicht mit sich selbst, wenn es nicht gleich gelingt. Kleine Schritte sind dabei hilfreicher als ein „Ab heute mache ich alles anders!“, denn man sieht schneller Erfolge, die zum weiteren Üben motivieren.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es nicht leicht ist, wirklich dabeizubleiben. Alte Gewohnheiten haben eine ungeheure Kraft. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es sich mehr als lohnt. Der bewusst gestaltete Umgang mit sich selbst fühlt sich viel besser an.
Zum Umgang mit den eigenen Gefühlen
Unmittelbar verbunden mit dem vorhergehenden Aspekt ist die Frage, wie man mit den eigenen Gefühlen umgeht und ob dieser Umgang gut tut. Noch etwas basaler ist jene Frage, ob ich meine Gefühle in ihren unterschiedlichen Qualitäten überhaupt wahrnehme oder ob ich eher dazu neige, sie zu übergehen. In der Stille des Krankenlagers kann das mitunter schwierig sein. Denn wenn der Schutz des Alltagsgetöses fehlt und man krankheitsbedingt viel Zeit allein verbringt, drängen Gefühle manchmal mit bislang ungekannter Heftigkeit ins Bewusstsein.
Was macht man da? Haltung bewahren? Stark sein? Augen zu und durch? Viele Menschen neigen dazu, als belastend empfundene Gefühle wegzudrücken, zu bagatellisieren oder negativ zu bewerten. Dabei gibt es keine Gefühle, die an sich besser oder schlechter wären. Manche sind gewiss anstrengender als andere, aber vielleicht sind gerade sie wichtig, weil sie uns auf etwas aufmerksam machen.
Gefühle zeigen uns an, wie es uns mit einer bestimmten Situation geht, sie sind Hinweisgeber und werden manchmal zu Wegweisern. Dafür muss ich sie wahrnehmen (dürfen).
- Wie geht es mir jetzt in diesem Moment?
- Gestehe ich mir zu zu spüren, wenn ich traurig bin oder hoffnungslos oder ängstlich oder hilflos oder enttäuscht? Oder machen mir diese Gefühlsqualitäten eher Angst? Was könnte mir ermöglichen, mir auch diese Gefühle einzugestehen und sie da sein zu lassen?
- Wie will ich mit meinen Gefühlen umgehen? Was könnte mir helfen, auf eine Weise mit meinen Gefühlen umzugehen, die mir (mehr) entspricht?
Manchmal mag es vorkommen, dass wir von Hilflosigkeit oder Angst überwältigt werden. Dann können wir nur aushalten und brauchen etwas, das als Anker in die rettende Ruhe der Normalität fungieren kann wie einen Menschen, der an unserer Seite ist, ein bestimmtes Lied oder ein Gebet, das uns Halt gibt, oder auch die Selbstvergewisserung, dass wir meist schon einige schwere Situationen durchgestanden haben und es auch diesmal gelingen kann (selbst wenn es sich gerade nicht so anfühlt).
Mir persönlich hat in diesen Momenten das von mir so genannte „Prinzip des nächsten Schrittes“ geholfen: Ich muss nicht wissen, ob ich meine Angst, meine Trauer oder Hilflosigkeit immer aushalten kann, aber jetzt in diesem konkreten Moment schaffe ich es. Wenn ich die Kraft habe, dann auch im nächsten Moment. Der übernächste interessiert mich noch nicht, es geht nur um diesen und um den nächsten Moment. Auf diese Weise habe ich meinen Umgang mit belastenden Situationen in ganz kleine Einzelschritte zerlegt, die ich mir zugetraut habe zu gehen. Diesen Schritt schaffe ich und danach vielleicht auch noch den nächsten…
Die Fokussierung auf den konkreten Moment hat mir zusätzlich geholfen, vom dem, was mich bedrückt hat, innerlich etwas zurückzutreten. Ich konnte allmählich damit umgehen und nicht mehr die Angst oder Hilflosigkeit mit mir. Ich hatte Angst, aber ich war (nicht mehr) meine Angst, ich konnte mich zu ihr verhalten, ich war nicht mehr ausgeliefert, sondern konnte etwas machen.
Wenn bei überwältigender Angst oder Hilflosigkeit das „Machen“ manchmal kaum sichtbar ist: Auch Aushalten ist aktives Tun, aushalten ist handeln. Wir alle würdigen zu wenig – bei uns selbst ebenso wie bei anderen –, dass der tägliche Umgang mit einer Erkrankung und den aus dieser Lebenssituation resultierenden Gefühlen eine ungeheure Leistung ist, die Kraft und Nerven und Durchhaltevermögen und Geduld und Frustrationstoleranz erfordert, um nur einige Fähigkeiten zu nennen. Wir täten gut daran, uns diesen Punkt öfter ins Gedächtnis zu rufen. Vielleicht hätten wir dann weniger Angst vor jenen Gefühlen, die wir bislang als anstrengend oder unangemessen empfinden und am liebsten wegdrücken würden.
Steffensky F (2003): Ganzheit im Fragment. Heil und Heilung in unserer Zeit. In: Egner H (Hrsg.): Heilung und Heil. Begegnung – Verantwortung – Interkultureller Dialog. Düsseldorf: Walter Verlag, S.40-59